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Tôkyô 2020 : Auch ohne Corona in Japan unbeliebt

„ABE-LÜGE“, KORRUPTIONSVER-DACHT, „VERFASSUNGSBRUCH“: OLYMPIAKRITISCHE DEBATTEN

Auch ohne Corona: Das Projekt Tôkyô 2020 war in Japan von Anfang an nicht beliebt. Eine Mehrheit für die Spiele war kaum einmal auszumachen. Die Zahl der Gegner war stets groß, ihre Kritik teils fundamental. Und fundiert: denn wenn Olympia kommt, wird die Demokratie auf die Ersatzbank geschickt. Und die, denen es am schlechtesten gehen, zahlen am Ende die Rechnung. Die Folgen des Atomunfalls von Fukushima wurden für die erhofften schöne Spiele heruntergespielt, die Opfer der Katastrophe marginalisiert. Man musste aber noch nicht einmal ein eingefleischter Olympiagegner sein, um über Pleiten, Pech und Pannen rund um Tôkyô 2020 die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen. Die Liste der Skandale ist lang - und sie erzählt am Ende von einer Gesellschaft, deren alte Eliten ein wunderbares Land daran hindern, seine wahren Potentiale zu entfalten. Hier die Einleitung zum 3. Kapitel von "Tôkyô 2020. Olympia und die Argumente der Gegner" als Leseprobe: 

 

Die Olympiabewerbung Tôkyôs hat Anlass für vielfältige Kritik gegeben. Nicht weniger stand der sich daran anschließende, in japanischen Medien noch eher zurückhaltend als „schwankend“ charakterisierte Umsetzungsprozess zur Debatte. Aus der Vielzahl der vorgetragenen Kritikpunkte wurden für diese Arbeit einige Aspekte, die in besonderer Weise repräsentativ erscheinen, und die beträchtliche mediale Aufmerksamkeit erfahren haben, ausgewählt. Hierbei handelt es sich um Kritiken, die nicht zwingend in Verbindung mit einer fundamentalen Ablehnung der Olympischen Spiele selbst oder deren Ausrichtung zum jetzigen Zeitpunkt in Japan stehen. Aus diesem Fundus bedienen sich indessen auch die genuinen Olympiagegner ebenso wie jene, die aus dem Lager der Atomkraftgegner kommend der Ausrichtung eines Mega-Sportevents in Tôkyô 2020 ablehnend gegenüberstehen (vgl. Kapitel 4 und 5).

 

Zunächst war es der Bewerbungsprozess selbst, für den das Bewerbungskomitee bzw. die politischen Repräsentanten von Staat und Hauptstadt sich heftige Gegenrede gefallen lassen musste. So wird das Sicherheitsversprechen des japanischen Ministerpräsidenten Abe Shinzô beim Nominierungskongress des Internationalen Olympischen Komitees in Buenos Aires am 7. September 2013 in Bezug auf das havarierte Atomkraftwerk Fukushima Daiichi („It’s un-der con-troll!“) weithin als „Abe-Lüge“ (Abe-uso) oder gar als „Abe Shinzô’s Riesenlüge“ (Abe Shinzô no ôuso 安倍晋三の大嘘) charakterisiert. 

 

Schwer wiegt auch der Korruptionsverdacht, der die Olympiabewerbung Tôkyôs nach dem Erhalt des Zuschlags noch eingeholt hat. Der Verdacht, Stimmen gekauft zu haben, konnte nicht ausgeräumt werden. Besonders dass die Bewerbung für die Olympischen und Paralympischen Spiele in Japan durch ein offizielles Ermittlungsverfahren der französischen Justiz berührt worden ist, stellt eine nicht endende Belastung für das wichtigste Sportereignis der Welt dar. Mehrere Einzelhinweise verdichteten den Verdacht im Laufe der vergangenen Jahre darüber hinaus praktisch zur Gewissheit: Olympia 2020/21 in Japan gründet selbsverständlich auch auf Korruption, Bestechung und Geldwäsche.

 

Weiter gibt die als „Gebrauch“ (riyô 利用) bezeichnete – aber besser wohl als „Instrumentalisierung“ zu übersetzende –politische Inanspruchnahme der Kaiserlichen Familie (Kôshitsu no seiji riyô 皇室の政治利用) insbesondere im entscheidenden Moment am Ende des Bewerbungsprozesses Anlass zur vielfachen Kritik aus völlig unterschiedlichen Richtungen.

 

Darüber hinaus ist es das Problem der zunächst drohenden gigantischen Kostenexplosion, das in der Öffentlichkeit auf breite Ablehnung stößt, ohne dass dies zwingend zu einer Totalablehnung Olympias führen würde. Festmachen lässt sich diese Debatte neben der drohenden Kostenexplosion im Allgemeinen z.B. am Objekt des neuen Kasumigaoka-Nationalstadions. Die ursprünglichen Pläne der britischen Architektin Zaha Hadid (1950–2016) lösten zunächst in Architektenkreisen eine stilbildende Debatte aus, die auf beachtliche Weise auf soziologische Erklärungsmuster rekurrierte. Diese wiederum verwiesen auf so formulierte eklatante zivilgesellschaftliche Defizite. Stadionkritik als Gesellschaftskritik.  

 

Selbst glühende Olympiabefürworter, an der Spitze Ministerpräsident Abe ebenso wie der zeitweilige Gouverneur von Tôkyô, Masuzoe Yôichi 舛添 要一 (*1948/Amtszeit 2014–2016), haben diese Kostenentwicklung vordergründig gegeißelt. Dabei ließen sie fast vergessen, dass es gerade ihr eigener Anspruch an richtungsweisende Olympische Spiele in einem Tôkyô als Nummer eins unter den Weltmetropolen – den Global Cities – war, der für die aus dem Ruder laufenden Überdimensionierungen überhaupt erst gesorgt hatte. 

 

Mit großem Spott wurde in den Medien, insbesondere in den Sozialen Medien, das Scheitern bei der Findung der olympischen und paralympischen Embleme für 2020 belegt. Dabei musste sich der ursprüngliche Gewinner des Designwettbewerbs, Sano Kenjirô, den von ihm zurückgewiesenen Vorwurf gefallen lassen, sein Entwurf sei ein Plagiat.

 

Erschwerend hinzu kamen nach dem Zuschlag für Tôkyô Diskussionen um äußerst problematische Arbeitsbedingungen auf Tôkyôs Olympia-Baustellen, insbesondere im neuen Nationalstadion, die für den Suizid eines Arbeiters verantwortlich gemacht werden. Er hatte bis zu 200 Überstunden pro Monat leisten müssen und sah angesichts des auf ihm lastenden Drucks anscheinend keinen anderen Ausweg als sich selbst das Leben zu nehmen. Drei weitere Todesfälle auf olympischen Baustellen waren darüber hinaus zu beklagen. 

 

Ebenfalls thematisiert wurden Umweltschutzaspekte während des Stadionbaus, die die Nachhaltigkeitsversprechen der Organisatoren stark in Frage stellten. Die von Umweltschützern identifizierten südostasiatischen Tropenhölzer auf den Baustellen der Sportarenen wiesen auf ein weiteres moralisches Leck im Prozess der Olympia-Vorbereitungen hin. 

 

Eine für den japanischen Sport überaus schmerzhafte Debatte galt es zudem für das Bewerbungskomitee noch vor der Vergabe der Spiele auszuhalten, als das komplette japanische Frauen-Jûdôka-Team der Olympischen Spiele 2012 ihren Cheftrainer Sonoda Ryûji wegen notorischer Gewaltexzesse öffentlich anklagte und zugleich den japanischen Jûdô-Verband, weil dieser von ernsthaften Sanktionen gegen den Trainer zunächst abgesehen hatte. Der Fall Sonoda scheint indessen nur die Spitze eines Eisbergs zum Problem der Gewalt im japanischen Sport zu markieren.  

 

Zu allem Überfluss gab es gegen den Eigner der olympischen Golf-Anlagen, den Kasumagaseki Country Club, auch noch Sexismusvorwürfe, weil der Klub Frauen die Vollmitgliedschaft nicht gestattete. Erst durch ein Machtwort des selbst unter Druck geratenen IOC wurde diese weltweit kritisierte Diskriminierung formal abgestellt. Den Chef des Organisationskomitees, Ex-Premierminister Mori Yoshirô, hinderte dies nicht daran, im Februar 2021 einen Sexismusskandal vom Zaun zu brechen, der ihn letztlich auch dieses Amt kostete.

 

Es gibt darüber hinaus noch eine Reihe hier nicht näher beleuchteter weiterer Peinlichkeiten wie z.B. die Eröffnung von vorolympischen Segelwettbewerben mit einer Delphinshow, Einsparbemühungen der Organisatoren ausgerechnet beim Essen für Athleten oder die wiederholt beklagte schlechte Wasserqualität für die Freiwasserschwimmer, die selbst wohlwollende Beobachter mitunter einfach nur verständnislos zurückließen.

 

Einen Offenbarungseid leistete sich zudem das IOC, als es Olympioniken aufforderte, sich auf die zu erwartende Hitze und Schwüle von Tôkyô mit geeigneten Maßnahmen vorzubereiten – nämlich u.a. durch Saunabesuche. Dann überrollte das IOC Gastgeber Tôkyô mit der nicht abgestimmten Entscheidung, die Marathon- und Geher-Wettbewerbe im nordöstlichen Sapporo auf Hôkkaidô abzuhalten. Dabei wäre die sachgerechte Terminierung der Spiele frühestens im September die einzig geeignete und nachhaltigste Maßnahme gegen Japans unerbittlich heiße und schwüle Sommer gewesen. Ein Fehler, der auch dann nicht korrigiert wurde, als im April 2020 die Verschiebung der Olympischen Spiele um ein Jahr bekannt gegeben wurde.

 

"Tôkyô 2020. Olympia und die Argumente der Gegner" - Buchbeschreibung

Die Olympischen und Paralympischen Spiele in Tôkyô 2020/21 stießen in Japan von Anfang an nicht nur auf Zustimmung. Große Bedenken äußerten z.B. Atomkraftgegner und Betroffene der Dreifachkatastrophe von 2011. Sie kritisieren nach wie vor, dass die "Wiederaufbau-Spiele" dazu missbraucht würden, den Atomunfall von Fukushima vergessen zu machen.

    Andere lehnen zudem sportliche Megaevents im Kern ab. So steht Olympia als Motor von Gentrifizierung und Sozialabbau auch in Tôkyô in der Kritik. Ferner werden wachsender Nationalismus und zunehmend Gefährdungen der demokratischen Kultur mit Sorge beobachtet und mit Olympia in Verbindung gebracht.

    Mit der 2. Auflage des Bandes rücken die Korruptionsvorwürfe gegen Tôkyô 2020 noch stärker in den Mittelpunkt. Beleuchtet wird auch Japans problematischer Umgang mit der Corona-Krise, der die auf 2021 verschobenen Spiele an den Rand des Scheiterns brachte.

Warum Tôkyô 2020 schon vor der Corona-Krise so unbeliebt war - Eine kleine japanologische Bibliothek

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